Luca fällt ein Stein vom Herzen. Er holt sein Glückskissen aus einem Schrank. Ein letztes Mal riecht er noch an ihm, aber der Duft hat nichts Besonderes mehr, ausser vielleicht einen Hauch von Waschseife. Er packt es in eine Stofftasche, die er sich umhängt, schlüpft in seine Sandalen und verlässt die Wohnung in der Eisengasse.
Er wohnt dort seit fünf Jahren in einem Reihenhaus, in einer WG mit vier weiteren Personen: einem älteren Ehepaar, Margrit und Jürg, einer Studentin, Eva und seiner Partnerin Nour. Das Haus gehörte dereinst dem Ehepaar, aber seitdem ihre Kinder ausgezogen sind, und im Zuge der Grossen Transformation Wohnfläche von über dreissig Quadratmetern pro Person besteuert werden muss, haben sich Margrit und Jürg für diese Wohnform entschieden. Zusammen mit ihren Kindern und den Mitbewohnenden, haben sie eine Wohngenossenschaft gegründet, in welcher jedes Mitglied die gleichen Rechte und Pflichten hat.
Kaum tritt Luca aus dem Haus, spürt er, wie die warme Luft über seine Haut gleitet. Er schätzt die Temperatur auf dreissig, höchstens fünfunddreissig Grad. Wie würde es sich das wohl anfühlen mit zwanzig zusätzlichen Grad wie in Sizilien?
Er schnappt sich sein Velo im Unterstand und saust die Eisengasse hinunter. Er versucht so wenig wie möglich zu bremsen, damit er genug Schwung behält, um die Steigung jenseits der Bahnlinie hochzukommen. Dann biegt er links ins Wegmühlegässli ein, Richtung Ostermundigen, jetzt ein Quartier von Bern, nachdem die Vorortsgemeinde mit der Bundesstadt fusioniert hat. Geradeaus über die Bolligenstrasse wäre es zwar etwas kürzer, aber dort muss er mit viel Autoverkehr rechnen, während die Fahrt durch Ostermundigen viel angenehmer ist.
Der Ortsteil wurde nämlich während der Grossen Transformation verkehrstechnisch komplett neu organisiert. Er wurde nach niederländischem Vorbild in vier Zonen aufgeteilt: Bahnhof, Zollgasse, Wegmühle und Oberfeld. Diese sind vom motorisierten Individualverkehr — den Begriff hat er von seiner Schwester — nur noch über die Umfahrungsstrasse erreichbar und voneinander hermetisch getrennt. Natürlich können die Notdienste, der öffentliche Verkehr und der Werkhof die sogenannten Checkpoints problemlos passieren. Diese Massnahme hat den Autoverkehr drastisch reduziert und der Anteil am Veloverkehr ist durch die Decke gegangen, da er dadurch viel attraktiver wurde.
Über den Pappelweg und die Unterdorfstrasse erreicht er die Forelstrasse, wo ein eben solcher Checkpoint steht. Dort wurde zwischen Feuerwehrstützpunkt und Werkhof eine Fahrbahn durch eine Baumreihe ersetzt, die mit den Bäumen auf der anderen Strassenseite eine schöne Allee bildet. Die übrigbleibende Fahrbahn wurde in einen Veloweg umfunktioniert, welcher beidseitig durch einen absenkbaren Poller geschützt wird. Wie er durch diese Allee fährt, merkt er, dass die Temperatur empfindlich kühler ist. Was ein paar Bäume für eine Wirkung zeigen können!
Nach dem Checkpoint fällt ihm das Emmi-Areal auf. Das hat sich in den letzten Jahren auch sehr stark verändert. Dort wurde früher der berühmte Caffè Latte produziert. Aber seitdem Hafermilch nur noch die Hälfte von Kuhmilch kostet, und letztere mit ihrem damaligen Preis die Landwirte nicht korrekt zu entlöhnen vermochte, ist die Nachfrage nach Kuhmilch regelrecht ins Bodenlose gefallen. Die Emmi musste ihre Produktion zurückfahren und konzentrierte alle ihre Betriebszweige in Emmen. Auf der Industriebrache entstand eine bunte Zwischennutzung. In den Büros wurde günstiger Wohnraum improvisiert. Pendler, die sich lieber mit dem Velo oder dem Trottinett in Ostermundigen fortbewegen wollten, haben die ehemaligen Firmenparkplätze in Beschlag genommen. Die Nachfrage liess eine grosse Publibike-Station entstehen, und auch private E-Trottinett-Anbieter witterten ihre Chance. Nicht nur das. Die Menschen, die sich dort trafen, organisierten sich in Mitfahrgemeinschaften, so dass sie statt individuell, bald zu dritt oder zu viert in einem Auto pendelten. Eine bereits bestehende Bushaltestelle, sowie die Nähe des Bahnhofs und der Autobahnausfahrt waren alles Faktoren, die zum Erfolg beitrugen.
Seit neulich werden die LKW-Ladebuchten auch wieder genutzt: Waren, die nach Ostermundigen geliefert werden sollen, werden dort zwischengelagert und per Lastenrad feinverteilt. Da ist auch seine Mutter Andrea Stammgast. Sie arbeitet bei der Speditionsfirma Planzer, war letztes Jahr noch per LKW auf Achse, seit heuer aber fährt sie nur noch Lastenrad. Sein Vater Nikola sagt oft, nicht ohne Stolz, sie habe sich “von Truckerin zur Bikerin umqualifizieren lassen”.
Lucas Fahrt führt ihn an der Kleinen Allmend vorbei, die jetzt mit der Grossen Allmend sozusagen wieder vereint ist, nachdem ein Teil der Autobahn auf einer Länge von vierhundert Metern überdacht wurde. Besonders schön findet er die Ausführung nicht, denn es ist ein langgezogener Hügel mit wenig Erdreich, so dass dort nur Gras wachsen kann, keine Sträucher oder Bäume. Die Bolligenallee zerschneidet die Allmenden auch noch, aber der Verkehr hat da schon stark abgenommen, was ein Flanieren viel attraktiver macht. Umso mehr, als das Rauschen der Autobahn weg ist.
Schon sieht Luca die Postfinance Arena in der Ferne. Er ist da. Etwas verschwitzt, aber innerlich viel ruhiger, freut er sich, dass seine Gedanken, die ihn während der Fahrt begleitet haben, ihn von seinen Sorgen ablenken konnten.
Hallo Erich, je mehr ich von deiner Geschichte lese, desto mehr gefällt sie mir! Ich hoffe, dass es noch ein paar Teile geben wird :)
Danke Linda für die Vorschusslorbeeren. Ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen. Gemäss meinem Plan sollten es noch 3 Teile werden, aber vielleicht gibt es auch noch spontane Planänderungen. ;-)
Danke auch dir Heilari, für die treffenden Korrekturen.
Nichts zu danken! Der Text ist wundervoll und ich bin gespannt auf die Fortsetzung. :)