Entwurf einer Kurzgeschichte (6)
German

Entwurf einer Kurzgeschichte (6)

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fiction

“Ich habe jetzt auch was für dich, Luca”, sagt Lena und packt ihn am Arm. Er schaut sie fragend an. “Überraschung!”, ergänzt sie mit einem fröhlich singenden Ton.

Sie steigen auf die Velos und fahren auf dem Weg zwischen Allmend und Papiermühlestrasse los, in Richtung Wankdorfplatz. Die Autos verschwinden dort in den Untergrund und überlassen den Platz dem Tram und den Menschen auf dem Velo oder zu Fuss. Der Weg verzweigt sich und sie biegen rechts ab, wo nach ungefähr hundert Metern die Autos wie U-Boote wieder aus dem Untergrund auftauchen. Rechts und links von ihnen wurden junge Bäume und Sträucher gepflanzt. Dazwischen blühen Wildblumen. Es wimmelt nur so von Bienen und anderen Insekten.

Ein bisschen weiter beginnt eine sanfte Steigung, die zu einer Brücke führt. Von deren Mitte gelangt man über eine Rampe zwischen die beiden Fahrbahnen des Schermenwegs, der Strasse mit viel Autoverkehr, dem Zubringer zur Autobahn. Jetzt versteht Luca: Die Entflechtung des Langsam- und Autoverkehrs ist das Werk von seiner Schwester. Die Ein- und ausfahrten der Autobahn kreuzen nicht mehr den Veloverkehr, was sowohl Unfälle als auch Staus verhindert. Auch die Fussgänger haben Vorteile: Sie müssen nicht mehr an Ampeln warten. Nach der Autobahnbrücke erblickt er eine mit Fotovoltaik-Elementen bedeckte Glaskuppel. Sie sieht aus wie ein Gaskesseldom.

“Tadaa, der Schermendom”, ruft Lena.

Er steht mitten auf einem dreispurigen Kreisel, wo die Autos wie in einer Choreografie spiralig um den Dom tanzen. Diesmal führt der Velo- und Fussweg in den Untergrund wo sie sich trennen: Der Veloweg zeichnet einen grossen Kreis um die ganze Halle während der Fussweg geradeaus zu den drei anderen Ausgängen führt. Zwischen Veloweg und Wand befinden sich Veloabstellplätze. Der innere Bereich besteht aus einem ringförmigen Holzboden, der über einen Hebemechanismus selektiv zu Bänken oder einer Bühne hochgefahren werden kann. Durch die Kuppel dringt ein diffuses Licht ein, das dem Ort eine mystische Atmosphäre verleiht.

“Ich war mir sicher, dass du das noch nie gesehen hast”, sagt Lena dem staunenden Bruder.

“Ja, ich habe stets die Bolligenstrasse wegen der Nähe zur Autobahn gemieden. Ich hatte doch keine Ahnung, dass ihr diesen Ort so genial umgebaut habt!”

Sie parkieren ihre Velos und nehmen Platz auf einer Bank. Von Zeit zu Zeit fahren Velos vorbei, seltener queren Spazierende den Raum, ansonsten ist er menschenleer.

“Hier gibt es immer wieder Konzerte, Theateraufführungen oder Bürgerversammlungen. Dann ist es hier rappelvoll. Der Ort ist unglaublich inspirierend und abwechslungsreich”, erklärt Lena. “Aber sag mal, was ist heute Mittag passiert? Wieso musstest du unbedingt reden?”

Luca sammelt seine Gedanken. Vor bald zwanzig Jahren wurde das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet und es dauerte acht Jahre bis die Weichen gestellt waren, um den Ausstoss von Treibhausgasen drastisch zu reduzieren. Vom anfänglichen Budget von sechshundert Milliarden Tonnen, das der Menscheit noch übrigblieb, um wahrscheinlich die globale Erderwärmung unter eins komma fünf Grad zu deckeln, verbleiben jetzt nur noch fünfunddreissig Milliarden Tonnen, weniger als das, was in den Zehner Jahren in einem Jahr ausgestossen wurde. Wenn in den nächsten sieben Jahren die letzten schwierigsten Treibhausgasquellen nicht zum Versiegen gebracht werden, ist bald Game Over.

Trotz den Beispiellosen Bemühungen, haben sich die Lebensbedingungen auf der Erde verschlechtert, und die Menschheit muss sich an diese sich verändernden Umständen anpassen und Leid in Kauf nehmen. So wie die Sizilianischen Flüchtlinge eben.

“Mich stresst es grauenhaft, wenn ich sehe, was alles passiert, obwohl wir noch knapp unter den eins Komma fünf Grad sind. Was ich nicht alles geben würde, um zwanzig, dreissig Jahre zurück gehen zu können und gleich die Grosse Transformation anstossen, ohne bis zwanzig fünfundzwanzig zu warten”, sagt Luca wehmütig. “Eigentlich hätten wir eins Komma zwei statt eins Komma fünf anpeilen sollen”, fügt er an.

Lena bleibt still. Das genau ist ihr Bruder: hochemotional, altruistisch und in einem unglaublichen Masse empathisch.

“Weisst du, was mir jetzt gut tun würde?”, fragt Luca. Das war eine rhetorische Frage, denn er antwortet gleich. “Ich muss die Natur fühlen, komm, wir fahren noch in den Schermenwald.”

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