Sheldon erklĂ€rt Mathe 🧼
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Sheldon erklĂ€rt Mathe 🧼

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physics

In diesem Beitrag machen wir einen Abstecher in die Welt der Mathematik.

Nein, es ist kein Scherz.

Nicht weglaufen! Das hier besprochene Thema ist sowohl mit dem vorherigen als auch mit dem nĂ€chsten Thema verwandt (Spannung steigt). Mit der Physik geht es im nĂ€chsten Thema also weiter. Nun, ob das beruhigend wirkt, weiß ich aber nicht.

Es geht um die Variationsrechnung. Dieser Teil der Mathematik wird nicht im Schulunterricht besprochen und ist dementsprechend den meisten Lesern nicht gelĂ€ufig. FĂŒr solche Leser gibt es ebendiesen Beitrag. Außerdem mag ich das Thema sehr, also ergreife ich gerne die Gelegenheit, um darĂŒber zu schreiben. Dabei werde ich (wie gewohnt) keine mathematischen Formeln durch die Gegend schleudern, sondern sie und die Ideen dahinter sprachlich (und hoffentlich auch verstĂ€ndlich) beschreiben.

Aber es geht doch hier um ... Mathematik, richtig? Wie kannst du einfach darĂŒber quatschen?

Nun, vor allem geht es um mathematische Ideen. Diese Ideen lassen sich sehr wohl beschreiben. Also los geht's!

Wir fangen an mit einem leeren Blatt Papier. Auf dem Schreibtisch, zum Beispiel. Oder auf dem Boden, oder in Gedanken, mir egal. Nun zeichnen wir auf dem Blatt Papier zwei (beliebig getrennte) Punkte. Was ist dann der Abstand zwischen diesen beiden Punkten?

Nun, der Abstand wird ĂŒblicherweise als der Abstand entlang der geraden Linie verstanden, welche beide Punkte verbindet. Außerdem ist die gerade Linie diejenige Linie mit der geringsten LĂ€nge.

Wie denn jetzt?

Der „Abstand“ zwischen zwei Punkten ist nicht einfach so eindeutig. Man muss dafĂŒr auch den Pfad zwischen den Punkten angeben. FĂŒr den Pfad (fĂŒr die Kurve) gibt es im Allgemeinen unendlich viele Möglichkeiten. Von Interesse fĂŒr die Physik sind kontinuierliche (und mehrmals differenzierbare) Kurven, d. h. durchgezogene, sanft verlaufende Pfade (das klingt sehr spirituell). Mathematik-Freaks könnten sich dabei auch noch Kurven (oder GeradenstĂŒcken) mit beliebig vielen Knicks (Falten) vorstellen, wir wollen es aber nicht ĂŒbertreiben. Das Ziel dieses Textes ist nicht die vollkommen vollstĂ€ndige und lĂŒckenlose Darstellung der Variationsrechnung, sondern ich möchte hier meine Leser auch behalten können.

Die Tatsache (die Aussage), dass der Abstand zweier Punkte entlang der geraden Linie minimal (oder besser gesagt: „extremal“) ist, lĂ€sst sich mit der Variationsrechnung herausfinden. Mathe-Geeks könnten mir an dieser Stelle vielleicht vorwerfen, dass die Existenz (!) der Lösung auch noch bewiesen werden muss, aber wie gesagt, wir wollen es nicht ĂŒbertreiben. Dass die Lösung existiert, ist in diesem Fall doch recht intuitiv. Wir sehen ja die Gerade. In der Physik muss man sich nicht um solche existenziellen Fragen kĂŒmmern (da hat man andere Probleme!), denn der Ausgangspunkt ist ja eben eine Erfahrungstatsache. Die wichtige Frage dabei ist also, ob die Mathematik zu den PhĂ€nomenen (gut genug) passt.

Die Variationsrechnung erlaubt in diesem Fall die Bestimmung der Kurve mit der geringsten LĂ€nge. Die Idee ist, dass aus der GrĂ¶ĂŸe „Abstand“ die genaue Kurve hergeleitet werden kann, welche diesen Abstand minimiert. Eigentlich handelt es sich im Allgemeinen nicht um die Kurve mit dem kleinsten, sondern mit dem extremalen Abstand. Das Wörtchen „extremal“ enthĂ€lt dabei z. B. auch die Möglichkeit eines Maximums.

FĂŒr die genaue Berechnung sind Koordinaten nötig. Wir haben ja mit dem leeren Blatt Papier angefangen, nur um zu verdeutlichen, dass die (bis jetzt besprochenen) mathematischen Begriffe geometrischer Natur sind. Mit anderen Worten: Der Begriff eines Abstandes an sich hat zunĂ€chst nichts mit einem konkreten Koordinatensystem zu tun. Das in der Schule ĂŒbliche (und bis zum Tode verwendete) Koordinatensystem ist das Kartesische. Der Name kommt aus dem lateinisierten Namen von RenĂ© Des„cart“es (jemand, der auch schon in den letzten BeitrĂ€gen mehrmals beilĂ€ufig erwĂ€hnt wurde). Es gibt aber viele mögliche (und ein paar sinnvolle) Koordinatensysteme fĂŒr die mathematische Beschreibung eines (geometrischen oder physikalischen) Problems. Zum Beispiel passt zu einer Rotationsbewegung das „Polarkoordinatensystem“ wesentlich besser. Dart-Enthusiasten werden sofort begreifen, was das ist. Hier hat „polar“ allerdings nichts mit sĂŒĂŸen EisbĂ€rbabys zu tun, sondern mit dem Ursprung des Koordinatensystems (der Ursprung wird dabei als „Pol“ bezeichnet). Übrigens hat Isaac Newton das Polarkoordinatensystem eingefĂŒhrt, um eben die Rotationsbewegung (einfacher) analysieren zu können, der mathematische Begriff ist also aus der Physik entsprungen.

Auf dem Papier kann man zeichnen. Mit Koordinaten kann man auch rechnen. Der Abstand entlang einer geraden Linie wird dabei mit dem Satz des Pythagoras berechnet. Der Abstand ist dabei die Hypotenuse eines Dreiecks mit den Koordinaten (mit den Projektionen des Abstandes auf den Koordinatenachsen) als Katheten. Der Abstand ist also (Abstand)^2 = (horizontale Strecke)^2 + (vertikale Strecke)^2. Diese Formel gilt aber nicht im Allgemeinen, sondern nur fĂŒr die Gerade.

Allerdings kann man diesen mathematischen Ausdruck nehmen und nicht als Satz (des Pythagoras) verstehen, sondern vielmehr als Ausgangspunkt der Geometrie.

Was?

Der Satz des Pythagoras ist, so wie er steht, nur fĂŒr die euklidische Geometrie gĂŒltig, also fĂŒr die Geometrie der (flachen) Ebene. Allerdings gibt es andere Arten von Geometrie, zum Beispiel die einer Kugel oder eines Zylinders. Abstandsmessungen entlang von Kurven auf einer Kugel mit einem bestimmten Radius sind andersartig als auf der flachen Ebene, um etwas Konkreteres zu sagen. Solche Geometrien werden mathematisch mit der sogenannten „Metrik“ beschrieben bzw. angegeben. Die ursprĂŒnglich als Theorem herausgefundene Aussage (der Satz des Pythagoras) wird dabei zum infinitesimal gĂŒltigen Ausgangspunkt auserkoren. Das bedeutet, dass es anstatt c^2 = a^2 + b^2 eine Formel wie ds^2 = dx^2 + dy^2 fĂŒr die (in diesem Fall flache) Geometrie gibt. Hierbei steht die GrĂ¶ĂŸe „ds“ fĂŒr das „Wegelement“ entlang der infinitesimalen Strecke zwischen den Punkten (0, 0) und (dx, dy). Auch hier werden Mathe-Profis etwas ungeduldig, sobald das Wörtchen „infinitesimal“ fĂ€llt, aber lassen wir das so stehen.

Der Abstand entlang einer Kurve zwischen zwei Punkten (in einem Raum mit einer bestimmten Geometrie) ist dabei das „Pfadintegral“ des entsprechenden Wegelementes „ds“ zwischen diesen beiden Punkten. Die anschauliche Idee dabei ist, dass man der Kurve folgt und Schritt fĂŒr Schritt die dabei zurĂŒckgelegte Strecke aufzĂ€hlt.

Eine kurze Pause. Vielleicht das Fenster eben aufmachen. Nicht springen, bitte.

Okay. Weiter geht's.

Nun haben wir eine flache Ebene (oder andere Geometrien), zwei Punkte, mehrere Pfade (oder Kurven) zwischen den beiden Punkten, ein Koordinatensystem und noch mehr Schönes besprochen. Was machen wir jetzt damit?

Nun kommt die „Variationsrechnung“ um die Ecke (die frĂŒheren Ideen sind Teil der „Differentialgeometrie“) und sagt: Die „Kurve mit der geringsten LĂ€nge zwischen den beiden Punkten entlang des zu bestimmenden Pfades“ lĂ€sst sich anhand der Euler-Lagrange-Gleichung berechnen. Diese Kurve heißt ĂŒbrigens „GeodĂ€te“, ich werde also die wesentlich lĂ€ngere Umschreibung ab jetzt vermeiden (ja, jetzt, wo der Text fast fertig ist). Die Euler-Lagrange-Gleichung werde ich hier nicht besprechen, aber die stationĂ€re Variation des Pfades schon.

Eine „Variation“ ist ein mathematischer Begriff mit einer anschaulichen Bedeutung: Wir nehmen den Pfad zwischen den beiden Punkten und Ă€ndern ihn. Dabei werden die beiden Punkte aber festgehalten. Mit anderen Worten: Wir zeichnen einen alternativen Pfad auf der Ebene (in diesem konkreten Beispiel), der auch durch die bekannten Punkte geht aber ansonsten anders verlĂ€uft. Jeder alternative Pfad hat eine andere LĂ€nge.

Die „stationĂ€re Variation“ ist eine Verfeinerung der allgemeinen Variation. Dabei handelt es sich um eine „leichte“ Änderung des Pfades mit dem kleinsten (extremalen) Abstand. Der Begriff „leichte Änderung“ ist natĂŒrlich noch mathematisch genauer zu formulieren, aber die Idee ist ebenfalls intuitiv verstĂ€ndlich: Einen alternativen Pfad, der in jedem Punkt sehr nahe am echten Pfad (mit dem minimalen Abstand) steht, liefert fast denselben Abstand. Die leichte Variation des Pfades liefert also nĂ€herungsweise den gleichen Abstand. Dies ist nur der Fall, wenn es sich dabei um Variationen um die GeodĂ€te handelt, ansonsten sind dabei beliebige Änderungen des Abstandes zu erwarten. Die GeodĂ€te ist also eine sozusagen stabile Kurve bezĂŒglich des Abstandes.

Zusammenfassend:

Die Variation, also die Änderung des Pfades, ist etwas Globales. Die stationĂ€re Variation ist ebenfalls global. Die Lösung mit der Euler-Lagrange-Gleichung (d. h. die GeodĂ€te) hat allerdings einen lokalen Charakter. FĂŒr die Formulierung und die Lösung der Euler-Lagrange-Gleichung ist ein Koordinatensystem nötig, das Problem an sich ist jedoch geometrischer Natur.

Und das ist schon alles, was ich hier besprechen wollte. Ich weiß, dieser Beitrag ist (schon wieder) ziemlich abstrakt, aber die MĂŒhe lohnt sich. Die ersten FrĂŒchte unseres mathematischen Ausfluges werden direkt im nĂ€chsten Thema zu ernten sein.

Tipp: FĂŒr diejenigen, die nicht warten können, empfehle ich dieses Youtube-Video (einen Abschnitt aus der Serie „The Big Bang Theory“): https://youtu.be/61FasQ6KQCI?t=161.

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