Mein Urgroßonkel Hyazinth: der schizophrener Künstler (Teil 1)
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Mein Urgroßonkel Hyazinth: der schizophrener Künstler (Teil 1)

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Am 16. Mai 1912 wurde mein Urgroßonkel Hyazinth Freiherr von Wieser (1883 - 1927) in die Kuranstalt Neufriedenheim in München eingeliefert.

Vor seinem Aufenthalt (oder vielleicht besser: seiner Haft) in verschiedenen Irrenanstalten zwischen Bayern und Österreich, verbrachte Hyazinth einige Zeit in Paris. Während dieser Zeit studierte er Soziologie, entwickelte seine zeichnerischen Fähigkeiten, und bekam angeblich (laut die Gerüchte meiner Familie) Syphilis. Ich denke, dass sich die damaligen Familienmitglieder bestimmt an dieses Gerücht geklammert hatten, weil es eine Ursache für seinen Wahnsinn gewesen sein könnte, statt erblicher Ursachen.

"Gott sei Dank, dass seine Verrücktheit nichts mit unserer ehrenhaften und adeligen Familie zu tun hat!"

Ich wette jedoch, dass sein Zustand wahrscheinlich durch einer Mischung von einer erblichen Verschrobenheit und der zeitgeistlichen Umständen ausgelöst wurden.

Der im späten neunzehnten Jahrhundert geborene Hyazinth und seine Geschwister gehörten zur letzten Generation, die während des sogenannten ‘Goldenen Zeitalter der Sicherheit’ in Wien aufgewachsen waren. Er und sein Bruder, Kurt (mein Urgroßvater) wurden in einer kulturellen Gesellschaft erzogen, ähnlich wie derjenige, die von Stefan Zweig in ‚Die Welt von Gestern’ abgebildet wird. Das heißt: eine Welt von Privileg und relativ Frieden, in der viele ziemlich reiche und oft jüdische Denker, Musiker, Schriftsteller und Künstler die Zeit und Freiheit hatten, um 'das Problem des Lebens' zu lösen. Sie war die Welt von berühmten Figuren wie Freud, Schnitzler, Schönberg und Klimt, sowie weniger bekannten aber ebenso wichtigen Mitglieder der 'Wiener Moderne' wie Alfred Loos, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Theodor Herzl und Peter Altenberg. Hyazinth und Kurt, die ähnlich reich und gut ausgebildet erzogen worden waren, hätten sich zweifellos als auch Mitglieder dieser kulturellen und historischen Gemeinschaft betrachtet. Sie waren auch halbjüdisch, weil ihre Mutter aus einer reichen jüdischen Familie stammte, aber das war nicht so wichtig für sie als moderne und wienerische Intellektuelle zu sein.

Hyazinth war der älteste unter seinen Geschwistern und ich kann mir vorstellen, dass er einen großen Druck von seiner Familie gefühlt hatte, ein erfolgreiches und wichtiges Teil dieser damaligen Gesellschaft zu werden. Ein Teil seiner Geisteskrankheit war ein 'systematisiertes Begriffsgebäude', das er in der Anstalt entwickelt hat. Er erfand verschiedene pseudowissenschaftliche 'Kategorien' wie 'Willologie, Gerechtologie, Schönologie, Witzologie, Zeitlogie' u.s.w. und nannte sein Projekt 'Die Willologie der Sonne'. In einem Brief an seinem Vater hat er proklamiert, dass er 'Das Problem des Lebens lösen' wird. Sein geistiger Zustand und Ausdrücke von seinem Wahnsinn wurden deutlich mit der intellektuellen Umgebung der Wiener Moderne und ihren Vorbildern verbunden.

Es scheint auch, dass die Familie keine Fremden zu Exzentrizität und ausgefallene Ideen waren. In einem Kapitel über Hyazinth aus dem Buch, 'Bildnerei der Geisteskranken' (1922), in dem Hans Prinzhorn viele Kunstwerke und Biographien von den Geisteskranken gesammelt hat, wurden der Vater und der Onkel von Hyazinth als 'exzentrisch und neurasthenisch' beschrieben. Sein Bruder Kurt (mein Urgroßvater) hat auch ein bemerkenswertes und fast unverständliches Werk mit dem Namen 'Das Gesetz der Organisation' verfasst, worin er eine sogenannte 'exakte Lehre über den Aufbau der Welt' zu formulieren versucht hat. Dieses 'Opus' (wie er es nannte) besteht aus verschiedenen Bänden, die er während seines Lebens selbstveröffentlicht hat (aber das ist zwar eine andere Geschichte!) Obwohl Kurt nie geisteskrank wurden, ist es bemerkenswert wie ähnlich sein exzentrisches Lebenswerk der eigenen schizophrenen Arbeit ('Die Willologie der Sonne') des Hyazinths ist.

Was auch immer die Ursache sein mag, der Wahnsinn meines Urgroßonkels ist wahrscheinlich aus verschiedenen erblichen und kulturellen Umständen aufgetaucht.

[In dem nächsten Teil werde ich euch über die Symptome und Kunstwerke meines Urgroßonkels erzählen. Inzwischen könnt ihr einen kurzen Film darüber anschauen, den ich gemacht habe: https://vimeo.com/369007062]

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