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German

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creativity

Die Kerze war bis zum Stummel heruntergebrannt, ihr flackerndes Licht warf lange, zitternde Schatten über das Schachbrett. Irinas Finger schwebten über dem weißen Bauer, ihr Geist verloren im endlosen Tanz aus Strategie und Stille. Seit Sonnenaufgang hatte sie gespielt, ihre Gedanken zerflossen im Rhythmus der Züge und Gegen-züge, bis die Welt jenseits des Brettes aufgehört hatte zu existieren.

Dann – ohne Vorwarnung – wurde die Luft schwer. Die Ränder ihres Sichtfelds verdunkelten sich, die Figuren vor ihr verschwammen wie Tinte in Wasser. Eine eisige Taubheit breitete sich in ihren Gliedern aus, und plötzlich fiel sie.

Nicht hinab, sondern ins Brett hinein.

Als sie die Augen öffnete, stand sie auf einem weiten, karierten Schlachtfeld, der Himmel darüber ein wirbelndes Nichts aus Rauch und fernen Sternen. Sie blickte an sich herab – ihr Körper war klein, zerbrechlich. Ein weißer Bauer.

Und dann spürte sie es – das Gewicht dieses Blicks, grausam und berechnend.

Der Schwarze König stand am Rand des Brettes, seine hohlen Augen auf sie gerichtet. Er sprach nicht. Er musste nicht. Seine Absicht war klar in der langsamen, bedachten Art, wie er vortrat, sein Schatten sich nach ihr ausstreckte wie ein Versprechen des Verderbens.

Schrecken packte sie. Sie rannte.

Feld um Feld floh sie, ihr Atem keuchend, ihr Herz ein wilder Trommelwirbel. Sie kannte die Regeln – wenn sie das Ende erreichte, konnte sie aufsteigen. Sie konnte etwas Größeres werden. Etwas Mächtiges genug, um zu überleben.

Doch der König war unerbittlich.

Gerade als ihr Fuß das letzte Feld berührte, schloss sich seine Hand um sie. Sein Griff war eisern, seine Stimme das Flüstern einer gezogenen Klinge.

"Du gehörst nun mir."

Dunkelheit verschlang sie.

Als sie erwachte, war sie kein Bauer mehr.

Sie war die Schwarze Königin.

Gekrönt in Obsidian, ihr Kleid die Farbe einer sternlosen Nacht, stand sie neben einer anderen Königin – ihr Zwilling in Gestalt, doch nicht in Seele. Gemeinsam wandten sie sich gegen die weiße Armee und metzelten sie erbarmungslos nieder. Ritter fielen unter ihrer Klinge. Läufer zerknitterten wie Pergament. Die Flehen des weißen Königs verhallten ungehört, als sie ihren Dolch durch sein Herz stieß.

Das Brett verstummte.

Dann begannen sich die Figuren zu verändern.

Ihre Farben verblassten, hinterließen nur noch Grautöne, manche von einem kränklichen Rosa durchsetzt, als seien sie von altem Blut befleckt. Sie verzerrten sich in ihrer Größe – einige schwollen zu monströsen Gestalten an, andere schrumpften zu erbärmlich zitternden Wesen.

Und dann, als zöge sie eine unsichtbare Gewalt, stürzten sie sich in sie hinein.

Jede Figur. Jeder gefallene Soldat. Jeder Geist des Spiels.

Sie strömten in ihre Brust, ihre Erinnerungen, ihre Ängste, ihre letzten Atemzüge verschmolzen mit ihren eigenen. Sie schrie, doch kein Ton drang heraus. Die Last in ihr war unerträglich – eine Ewigkeit aus Schlachten, aus Verrat, aus endlosem, sinnlosem Krieg.

Die Angst war so gewaltig, so alles verschlingend, dass sie sie nach einer Weile nicht mehr erkennen konnte. Sie war einfach da.

Ein Teil von ihr.

Ein Teil des Spiels.

Als Irina in der wirklichen Welt erwachte, war das Schachbrett vor ihr unberührt, die Figuren standen, wie sie gestanden hatten.

Doch sie war nicht mehr dieselbe.

Die Schatten im Raum klammerten sich zu eng an. Die Luft schmeckte nach Staub und altem Blut. Und wenn sie die Augen schloss, hörte sie sie immer noch – das Flüstern der Figuren, das Echo der Stimme des Königs.

Du gehörst nun mir.

Und sie wusste, mit einer stillen, eisigen Gewissheit, dass das Spiel nicht vorbei war.

Es hatte gerade erst begonnen.

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