Die Unterscheidung zwischen romanischen und germanischen Sprachen als Wort- und Silbensprachen
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Die Unterscheidung zwischen romanischen und germanischen Sprachen als Wort- und Silbensprachen

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In diesem Semester belege ich an der Universität den Kurs "Deutsche Sprachgeschichte", für den ich diesen Text geschrieben habe.

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1. Einleitung

Wenn man als niederländischer Muttersprachler eine romanische Sprache wie Französisch oder Spanisch lernt, kommt man um Übungen wie das Erkennen einzelner Wörter oder das Zählen der Silben eines Wortes nicht herum. Das französische ’pas de quoi‘ hört sich z.B. an wie [patkwa] und wer [tomate] hört, muss aus dem Kontext wissen, ob ‘toma té’ (‘Tee trinken’) oder ‘tomate’ (die Frucht) gemeint ist. Romanische Sprachen sind Silbensprachen, was bedeutet, dass betonte Silben sich kaum von unbetonten unterscheiden. Für Sprecher der germanischen Sprachen ist das schwierig, weil germanischen Sprachen meistens Wortsprachen sind, wobei der Wortstamm (der die Bedeutung des Wortes trägt), deutlich hörbar ist. 

2. Wort- und Silbensprachen

Wortsprachen sind im Allgemeinen hörerfreundlich. Mit verschiedenen phonologischen Mitteln wird das phonologische Wort verdeutlicht, während bei den Silbensprachen eine einfache Aussprache wichtiger ist. Silbensprachen konzentrieren sich also auf die Verbesserung der phonologischen Silbe (Nübling 2017: 31), deshalb gibt es in Silbensprachen nur einfache Silben (wie CV-Silben). Komplexe Silben sind vorbehalten für Wortsprachen, gleich wie betonten Silben. Eine betonte Silbe – der Wortakzent - wird lauter und intensiver ausgesprochen als eine unbetonte Silbe, wodurch es für der Hörer deutlich wird, ob es sich bei eine Silbenkette um ein oder mehrere Wörter handelt. Im Allgemeinen fehlt in Silbensprachen der Wortakzent oder wird er nur schwach realisiert. In unbetonten Silben gibt es nur kurze Vokale, meist einen einzigen, reduzierte Vokal. Deswegen findet in Wortsprachen keine Vokalharmonie statt. Vokalharmonie ist eine Assimilation zwischen Vokalen, die die Aussprache einer Silbenkette vereinfacht, weil Vokale in nachfolgenden Silben einander angepasst werden (Nübling 2017: 35). 

3. Romanische und Germanische Sprachen

Romanische Sprachen sind überwiegend Silbensprachen, weil der Wortakzent nicht nur schwach realisiert wird, sondern auch immer mehr oder weniger auf der gleichen Silbe liegt. Im Spanischen gibt es z.B. strikte Regeln für die Betonung: die vorletzte Silbe ist betont, wenn ein Wort endet auf einen -s, -n, oder ein Vokal. Endet ein Wort auf einen Konsonanten (außer -s oder -n), dann ist die letzte Silbe betont. Ausnahmen werden angezeigt durch einen geschriebenen Akzent; die Betonte Silbe bleibt aber unverändert, wenn das Wort extra Silben bekommt, wie im Plural (un inglés, dos ingleses). Im Französischen ist die betonte Silbe immer die letzte Silbe, es sei denn, es geht um eine Silbe mit ein stumm e (e muet / Schwa), wie z.B. maison (Haus) und frère (Bruder). 

Deutlich realisierter Wortakzente findet man in germanistischen Sprachen, wie Deutsch und Niederländisch, obwohl das Deutsch sich im Laufe der Geschichte von einer Silben- zu einer Wortsprache entwickelt hat. Außerdem hat z.B. das Schweizerdeutsch sich abweichend vom Standarddeutsch entwickelt und die Silbensprachlichkeit stärker konserviert. Zu vermuten ist, dass diese Silbensprachlichkeit gefordert würde durch ein intensiven Sprachkontakt mit den (silbensprachigen) romanischen Nachbarsprachen (Szczepaniak 2009: 51). Wenn es geht um Vokalelision (Ausfall eines Vokales), ist diese Silbensprachlichkeit u.A. deutlich sichtbar in Verben die im Deutschen enden auf -eln, sich aber im Schweizerdeutschen verwandeln in -le (entwickeln wird entwickle) und auch Vokalepenthese (Einschub eines Vokales) ist leicht zu erkennen; klettern wird chlädere. Obwohl der französische Einfluss auch im Lexikon nicht zu übersehen ist (Billet für Fahrkarte oder Retour für Rückreise), ist der Aussprache dieser Wörter im Schweizerdeutschen nicht dieselbe wie im Französischen (retour (FR) und Retour (CHDt) oder billet (FR) und Billet (CHDt)). In der französischen Schweiz wird die Aussprache dieser Wörter sogar vom CHDt übernommen und werden diese ursprünglich französischen Wörter nicht mehr nach den französischen Betonungsregeln ausgesprochen. 

Der Satz, der als allererste geschriebene Satz in Niederländisch bekannt ist, deutet darauf hin, dass das Niederländische die gleiche Entwicklung von Silben- zur Wortsprache durchlief wie das Deutsche. In ‘Hebban olla vogala nestas hagunnan hinase hic anda tu wat unbidan we nu? ’ haben z.B. die letzten Silben der Verben (hebban, hagunnan, unbidan) ein starker Vokal, was bedeutet, dass die Betonung auch auf diese Silbe fallen konnte. In modernem Niederländisch haben diese Silben nur einen stark reduzierten Vokal und sind sie unbetont (hebben, begonnen, wachten). In einem noch älteren Satz sind alle Silben offen und haben einen starken Vokal: ‘maltho thi afrio lito’. 

Das heutige Niederländisch ist jedoch eindeutig eine Wortsprache mit einem deutlichen Akzent auf dem Wortstamm und Reduktion in unbetonten Silben. Wörter werden deutlich voneinander abgegrenzt und es gibt keine Vokalharmonie. Die Betonung des Wortstamms ist deutlich im Verb ’voorkomen’ zu erkennen, das je nach Betonung zwei verschiedenen Bedeutungen haben kann: ’De advocaat kon niet voorkomen dat de verdachte moest voorkomen’ (Der Anwalt konnte nicht verhindern, dass der Angeklagte erscheinen musste), wobei die Betonung im ersten Fall liegt auf ’ko’ (voorkomen) und im zweiten Fall auf ’voor’ (voorkomen). 

4. Fazit

Der Unterschied zwischen germanischen und romanischen Sprachen wird teilweise durch die Unterscheidung zwischen Word- und Silbensprachen erklärt. Die germanischen Sprachen sind Wortsprachen, aber es gibt noch deutliche Spuren der Silbensprache, die sie am Anfang waren. Theoretisch gesehen ist der Unterschied zwischen Word- und Silbensprachen eindeutig, in der Praxis beeinflussen die romanischen Sprachen die germanischen Sprachen und umgekehrt. Es ist daher unvermeidlich, dass Wortsprachen auch Züge von Silbensprachen aufweisen und dass Silbensprachen Merkmale von Wortsprachen übernehmen.

Bibliographie 

Damaris Nübling, Historische Sprachwissenschaft des Deutschen (Tübingen: Narr, 2017).

Renata Szczepaniak, “Silbensprachen versus Wortsprachen”, NATUR & GEIST 2/2009 (2009), 49-52.

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