Eine neue Frau
German

Eine neue Frau

by

fiction

Inspiration für diesen Text war die Kurzgeschichte Herr vom Ende.

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Sie würde lügen, wenn sie sagen würde, dass sie nicht auch ein kleines bisschen erleichtert war. Diese Situation war doch schon lange nicht mehr haltbar und jeder Mensch mit nur dem geringsten gesunden Verstand, hätte schon längst eine andere Lösung gesucht. Aber nicht sie, sie konnte das nicht. Auf Gedeih und Verderb hatte sie ihm vor fast vierzig Jahre versprochen und sie war ganz sicher dass er, wenn diese ganze Schweinerei andersrum gewesen wäre, das gleiche für sie getan hätte. Sie hatten sich so lange und so innig geliebt… Egal wie verrückt das alles war, sie war für ihn da. Bis dass der Tod uns scheidet. Und das war scheinbar jetzt.

Traurig war sie auch nicht. In den letzten Monaten hatte sein Verhalten sich geändert. Er machte mehr Lärm, war unruhiger, verzweifelter. Für seine eigene Sicherheit hatte sie alles womit er sich selbst verletzen könnte aus seinem Zimmer geholt. Zuerst waren das die kleine, offensichtliche Dinge gewesen; die Schere, das Messer, mit dem er seine eigenen Äpfel noch schälte. Danach folgten Bleistifte, Klebeband, Schnürsenkel… Es gab so viel womit man sich verletzen könnte, total unerwartet und unglaublich, wenn man die Folgen nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Ihm die Bleistifte abnehmen war richtig schwierig gewesen. Die hatten seit seiner Kindheit sein ganzes Ich ausgemacht. Zeichnen war sein Entkommen, wenn er in seinem Zimmer war und zuhörte wie sein Vater seine Mutter unten grün und gelb schlug. Er war zu klein um ihr helfen zu können und deswegen hat er gezeichnet als wäre sein eigenes Leben davon abhängig. Seine Zeichnungen brachten immer ein Lächeln auf das Gesicht seiner Mutter. Aber eines Tages hörte sie ganz auf zu lachen. Sein Vater war zu weit gegangen, seine Mutter würde nie wieder lachen. Dann war er von zu Hause weggelaufen.

Sie wischte die Träne weg, die unbemerkt über ihre Wange gerollt war. Sie hat ihn nie anders gekannt als mit mindestens fünf Bleistifte nebenbei. Für sie waren Bleistifte nur Bleistifte, wie oft er auch versucht hatte ihr den unterschied zwischen diesen fünf zu erklären. Er hat immer gezeichnet und sie hatte nie gedacht dass sie ihm das letzte bisschen Glück auf diese Weise abnehmen hätte müssen. Von da ab hatte er auch nie mehr dieses Zimmer verlassen. Der Tag, an dem sie die Bleistifte mitgenommen hat, war deshalb vielleicht schwarzer als der Tag an dem er gestorben war. An dem sein Körper gestorben war, seine Seele war schon längst tot.

Fühlte sie sich vielleicht ein bisschen schuldig? Sie hat so oft darüber fantasiert wie es wäre wenn er nicht mehr da wäre. So ein ganz anderes Leben. Überhaupt wieder ein Leben zu haben und nicht jeden Tag zu Hause sein müssen, denn stell mal vor, dass er sich gerade den Moment ausgesucht hätte wieder sein Zimmer zu verlassen wenn sie mit einer Freundin ins Restaurant gegangen war. Sein Tod änderte alles. Wirklich alles. Ein kleines Lächeln brach durch auf ihr Gesicht.

Bei seiner Beerdigung haute sie den Knoten definitiv durch. Es gab nicht viele Leute, aber die die da waren, hatte sie in Jahren nicht gesehen. Die waren immer zu beschäftigt gewesen um vorbei zu kommen oder zu fragen wie es ihr eigentlich ging, wenn ihr Mann so krank war. ‘Freunde’ würde sie sie immerhin nicht mehr nennen, also warum sollte sie sich noch mit ihnen beschäftigen? Nein, es war gut so. Das hier war nicht nur die Beerdigung ihres Mannes, sondern auch die Beerdigung ihres alten Lebens. Sie sollte neu anfangen. Ein anderer Ort, andere Menschen. Sie sagte, sie wolle sich erfrischen und verließ die Trauerfeierhalle durch die Hintertür. Sie war frei. Sie war endlich wieder frei.

Einen Monat später wusste sie, dass es nicht nur seine Krankheit gewesen war die dafür gesorgt hat, dass sie selbst auch so gut wie tot gewesen war. Schon lange davor war das Feuer verschwunden. Zuerst machte sie sich Vorwürfe, dass sie das nicht früher bemerkt hatte, aber wieder drei Monate Später dachte sie kaum noch an ihr früheres Leben. Sie lebte, sie war glücklicher als je zuvor. Das Abflussreinigungsmittel war ohne Zweifel die beste Investition aller Zeiten gewesen.

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